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Der Bär, der ein Bär bleiben wollte Songtext
von Reinhard Mey

Der Bär, der ein Bär bleiben wollte Songtext

Er lebte in den Wäldern und lebte frei und allein
Sein Reich ging von den Hügeln bis tief ins Land hinein
Vom Bach bis an die Ufer seines Flusses und von da
Hinab bis in die Täler, soweit sein Auge sah

Er kannte jede Höhle und fast jeden Blaubeerstrauch
Die Lieblingsplätze der Forellen selbstverständlich auch
Und abends liebte er es sehr, im hohen Gras zu stehen
An einen Fels gelehnt zu denken, und ins Land hinauszusehen

So stand der Bär auch an jenem Nachmittag auf dem Fels
Recht deutlich spürte er den Herbstwind schon in seinem Pelz
Am Himmel sah er Wildgänse in Scharen südwärts ziehen
Er gähnte oft, und er war müd, und es fröstelte ihn

Er trottete zu seiner Lieblingshöhle durch das Laub
Verscharrte noch den Eingang hinter sich und sprach: "Ich glaub"
Es riecht nach Schnee", während er letzte Vorkehrungen traf
Legte sich auf sein Lager und begann den Winterschlaf


Er sollte recht behalten, es begann noch nachts zu schneien
Der Winter zog in seinen Wald, der Boden fror zu Stein
Ein eisiger Wind sang in den klaren Nächten im Geäst
Dem Bären in seinem Unterschlupf war warm, und er schlief fest

Doch mit dem Winter kamen auch die Menschen in den Wald
Sie fällten Baum um Baum, vermaßen, zäunten ein und bald
Brachten sie Kräne, Rohre, Bagger, Stahlbeton, schon stand
Genau über der Höhle eine Fabrik im Land

Der Frühling kam, und gut gelaunt erwachte auch der Bär
Tief unten in der Höhle, nur das Aufstehen fiel noch schwer
Und als er dann schlaftrunken durch den engen Ausgang stieg
Stand er ungläubig mitten auf dem Vorhof der Fabrik

Da kam auch schon ein Pförtner brüllend auf ihn zumarschiert
Los du da, an die Arbeit, statt hier rumzustehen, kapiert?
"Verzeihung", sprach der Bär verstört, "Aber ich bin ein Bär"
"Jetzt reicht′s mir", schrie der Mann, "Zum Personalchef, kein Wort mehr"

Der Personalchef war ein muffiger, verhärmter Mann
"Ich bin ein Bär", sagte der Bär, "das sieht man mir doch an"
"Was ich sehe, ist meine Sache" sprach der Mann, "und du
Bist ein dreckiger Faulpelz und noch unrasiert dazu"


Dann schubste er ihn zum Vizedirektor, der aktiv
Und sehr ergeben unterwürfig den Direktor rief
Der sprach und ließ dabei seinen Managersessel drehen
Unser Herr Präsident wünscht das faule Subjekt zu sehen

"So so", sagte der Präsident, "Sie sind also ein Bär"
Er hatte das größte Büro und langweilte sich sehr
Er war so mächtig, dass er keinen Schreibtisch mehr besaß
Keine Krawatte tragen musste und nur Comics las

Wenn Sie ein Bär sind, bitte, dann beweisen Sie das auch
Der Bär kratzte sich vor Verlegenheit über den Bauch
Nein, Bären gibt es nur in Zoo und Zirkus kurz und klein
Genau dort holen wir jetzt ein Gutachten über Sie ein

Die Präsidentenlimousine fuhr den Bären zum Zoo
Und seine Artgenossen musterten ihn schadenfroh
Und einstimmig erklärten sie, wer Auto fährt, und wer
Nicht hinter Gittern lebt, sei alles andere als ein Bär

Die Tanzbären im Zirkus urteilten genauso prompt
Weil wer nicht tanzt und radfährt, nicht als Bär in Frage kommt
Die Heimfahrt über dachte er: "Und ich bin doch ein Bär"
"Ich weiß es doch, ich weiß es", doch er wehrte sich nicht mehr

Er ließ sich Arbeitszeug anziehen, und als man ihm befahl
Sich zu rasieren, rasierte er sich seine Schnauze kahl
Stempelte seine Stechkarte wie jeder andere Mann
Und lernte, dass der Tag mit einem Hupsignal begann

Er ließ sich an eine Maschine setzen, wo ein Griff
Von rechts nach links zu drehen war, wenn eine Sirene pfiff
Und wenn man das versäumte, leuchtete ein rotes Licht
Das zeigte, ob der Mann daran arbeitete, oder ob nicht

So stand er Tag für Tag an der Maschine, drehte stumm
Den Griff von rechts nach links und danach wieder rechts herum
Nur in der Mittagspause musst er zum Fabrikzaun gehen
Um durch Maschen- und Stacheldraht ins Land hinauszusehen

Die Osterglocken wuchsen und verblühten vor dem Zaun
Ein Sommer kam und ging, der Herbst färbte die Wälder braun
Am Himmel sah er Wildgänse in Scharen südwärts ziehen
Er gähnte oft, und er war müd, und es fröstelte ihn

Er gähnte immer mehr, je mehr er sich zusammennahm
Er wurde immer müder, je näher der Winter kam
Vom Wachen taten ihm oft mittags schon die Augen weh
Er stand am Zaun und sagte vor sich hin: "Es riecht nach Schnee"

An dem Nachmittag schlief er glatt an der Maschine ein
Hörte nicht die Sirene, nur den Personalchef schreien
He, Du da, raus, du bist entlassen, hier ist dein Restlohn
"Entlassen?", jubelte der Bär und er machte sich davon

Sein Bündel auf der Schulter wanderte er ohne Ziel
Einfach geradeaus im Schnee, der schon in dicken Flocken fiel
So ging er einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag
Auf der Standspur der Autobahn, wo nicht so viel Schnee lag

Mal zählte er die Autos, die er sah, doch ihm fiel ein
Dass er nur bis fünf zählen konnte, und so ließ er's sein
Und dann am zweiten Abend sah er in der Ferne hell
Im dichten Schneegestöber Neonbuchstaben: "Motel"

Durchfroren, nass und müde trat der Bär an den Empfang
Der Mann hinter dem Tresen rührte sich nicht und schwieg lang
Tat unheimlich beschäftigt, um beiläufig zu erklären
Wir haben keine Zimmer frei für Landstreicher und Bären

Habe ich das Wort "Bär" gehört, sagten Sie "Bär" vorhin?
Das heißt, Sie sind der Meinung, dass ich wirklich einer bin?
Der Mann griff kreidebleich zum Telefon, der Bär ging schnell
Zur Tür, und er verschwand im Wald, gleich hinter dem Motel

Er stapfte durch den Wald, der ihm jetzt fremd und feindlich schien
Er ging, und nach und nach verließen seine Kräfte ihn
Ich muss jetzt darüber nachdenken, dachte sich der Bär
Was mit mir werden soll, wenn ich nur nicht so müde wär

Er setzte sich vor eine Höhle und starrte noch lang
Ins Leere, hörte, wie der Schneesturm in den Bäumen sang
Er spürte ihn nicht mehr und ließ sich ganz und gar zuschneien
Und vor dem dritten Morgen seiner Reise schlief er ein

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